Sebastian Bandelin und Alexander Lorenz sind seit Jahren Teil unserer Initiative und im August 2019 von den Mitgliedern in den Aufsichtsrat der Jenaer Baugenossenschaft gewählt worden. Im Interview nehmen sie Stellung zum Abschiedsbrief des mittlerweile aus der JBG ausgeschiedenen Vorstands Karsten Völkel, welcher im Frühjahr im Mitgliederrundbrief veröffentlicht wurde. Sie heben die mangelnde Bereitschaft des ehemaligen Vorstandes hervor, sich mit den Forderungen der Genossenschaftsmitglieder auseinanderzusetzen und kritisieren seine fragwürdigen historischen Vergleiche. Im April 2020 wurde Mario Münsterberg vom Aufsichtsrat als Nachfolger von Karsten Völkel zum Vorstand der JBG bestellt. Zweites Vorstandsmitglied ist nach wie vor Olaf Dietsch.
Karsten Völkel hat in seinem Abschiedsbrief davor gewarnt, dass die Genossenschaft in eine ökonomische Schieflage geraten könnte, wenn sich eine Kultur wie auf der Mitgliederversammlung (MV) 2019 dauerhaft etabliert. Wie reagieren Sie auf diesen Vorwurf?
Sebastian Bandelin: Eine Kultur wie auf der MV 2019 halten wir ebenfalls nicht für wünschenswert – wenn auch aus anderen Gründen. In den Wochen vor der MV hatten wir weit über 100 Unterschriften für eine Petition gesammelt, in der eine Reduzierung des Leerstandes, stabile Nutzungsentgelte (Mieten) sowie die Verbesserung von Transparenz, Mitbestimmung und Kommunikation gefordert wurden. Diese wurde nicht auf die Tagesordnung aufgenommen.
Jetzt lässt sich sicherlich darüber streiten, wie die Satzung diesbezüglich auszulegen ist: Einerseits legt §22 Abs. 3 der Satzung fest, dass Punkte auf die Tagesordnung gesetzt werden müssen, wenn ein Zehntel der Mitglieder dies fordert. Andererseits wurde argumentiert, dass die Mitgliederversammlung dennoch für diese nicht zuständig sei.
Aber wenn über zehn Prozent der Mitglieder eine Behandlung dieser Punkte fordern, dann ist aus unserer Sicht ein Rahmen zu schaffen, in dem diese angemessen diskutiert werden können. Dazu gehört dann, den einzelnen Beteiligten die Gelegenheit zu einer ausführlichen Stellungnahme zu geben. Und dazu gehört auch, dass kritische Nachfragen sachlich beantwortet werden. Stattdessen hat der inzwischen ausgeschiedene Vorstand unter dem Vorwand, es handele sich um Einzelfälle, die nicht die MV betreffen, Auskünfte verweigert und einzelne Beteiligte auch persönlich angegriffen. Und dazu gehört dann auch, in einer Versammlung mit über 200 Teilnehmenden Saalmikros zu stellen, um eine gemeinsame Diskussion aller Mitglieder zu ermöglichen. Mit dem genossenschaftlichen Grundgedanken hat eine solche Kultur tatsächlich wenig zu tun.
Unser Eindruck ist aber, dass sie auch schon in den Jahren zuvor bestanden hat. Was sich geändert hat, ist vielleicht eher, dass mehr und mehr Genoss*innen nicht länger bereit sind, einfach die Geschäftspolitik des Vorstandes abzunicken, sondern dass sie kritische Nachfragen stellen, diskutieren wollen und eigene Anliegen formulieren. Das ist gut und richtig so.
Genossenschaften sind für ihre Mitglieder da. Die Mitgliederversammlung ist DIE zentrale Möglichkeit, in der sich Mitglieder begegnen, sich eine Meinung über die Entwicklung der Genossenschaft und die Geschäftspolitik des Vorstandes bilden, eigene Interessen artikulieren und entsprechende Entscheidungen treffen können. Hier lässt sich so viel tun, um die Mitgliederversammlung tatsächlich zu einem Organ der gemeinsamen Entscheidungsfindung zu machen.
Man könnte im Vorfeld Anliegen und Nachfragen von Mitgliedern sammeln und auf der MV vorstellen. Man könnte mehr Informationen über langfristige Strategien, Prognosen etc. veröffentlichen und gemeinsam in kleineren Zusammenhängen diskutieren. Oder Zukunftswerkstätten organisieren, um Mitglieder in die langfristige Strategieentwicklung einzubeziehen. Man könnte gemeinsame Besuche bei anderen Wohnungsbaugenossenschaften anbieten, um über mögliche alternative Entwicklungspfade zu informieren und so weiter und so fort. Es geht uns in diesem Sinne gerade auch um ein besseres genossenschaftliches Miteinander.
Aber was ist mit dem Vorwurf, aus eigenen Begehrlichkeiten bzw. wirtschaftlichem Eigennutz den Gesamtbestand der Genossenschaft zu gefährden?
Sebastian Bandelin: Das verstehe ich in erster Linie als Ausdruck der mangelnden Bereitschaft, sich mit den Forderungen der Mitglieder ernsthaft auseinander zu setzen. Wir haben in den letzten Monaten und Jahren mit vielen unterschiedlichen Nutzer*innen gesprochen und uns ist wirklich niemand begegnet, dem der Fortbestand und eine langfristige positive Entwicklung der gesamten Genossenschaft nicht ein wichtiges Anliegen gewesen wäre.
Das schlägt sich auch in unseren Forderungen nieder. Eine Reduzierung des Leerstandes fordern wir ja nicht nur, weil bei zirka zehn Prozent Leerstand auch uns Nutzer*innen weniger Ausweichwohnungen zur Verfügung stehen und eine so hohe Quote in einer Stadt wie Jena auch wohnungspolitisch unverantwortlich ist, sondern auch, weil die JBG damit wichtige Einnahmemöglichkeiten verliert, die für die Entwicklung des Bestandes dringend gebraucht würden. Auch haben wir nicht, wie Karsten Völkel in seinem Abschiedsbrief behauptet, die Senkung, sondern die Stabilität der Nutzungsentgelte gefordert. Die Möglichkeiten dazu sind aus unserer Sicht angesichts hoher Rücklagen und möglicher Mehreinnahmen durch Reduzierung des Leerstands durchaus gegeben.
Vielleicht fällt es nach vielen Jahren in der Position des Vorstands auch schwer, sich das vorzustellen, aber eine Erhöhung der Nutzungsentgelte („Mieten“) um zwanzig Prozent bedeutet für viele Nutzer*innen tatsächlich einen deutlichen finanziellen Einschnitt. Zumal sich die Genossenschaft mit 6,06 Euro pro Quadratmeter schon jetzt im Bereich der ortsüblichen Vergleichsmieten bewegt und in einer Stadt wie Jena mit angespanntem Wohnungsmarkt kaum Alternativen bestehen. Die hier entstehenden sozialen Härten kann und darf der Vorstand einer Genossenschaft nicht einfach ignorieren.
Hohe oder steigende Mieten können sich eben nicht alle leisten. Insofern geht es hier nicht um wirtschaftlichen Eigennutz, sondern um den Kern der Genossenschaft selbst: nämlich die sichere und sozial verantwortliche Wohnungsversorgung der Mitglieder. Die langfristige wirtschaftliche Stabilität und die Anliegen der Mitglieder sind hier miteinander in Einklang zu bringen und nicht in dieser diffamierenden Weise gegeneinander auszuspielen. Das erwarten wir vom Vorstand einer Genossenschaft und insofern war der Rücktritt von Herrn Völkel richtig und konsequent.
Somit liegt dem Abschiedsbrief von Herrn Völkel ein problematisches Genossenschaftsverständnis zugrunde?
Alexander Lorenz: Wie auch in persönlichen Begegnungen beschreibt Herr Völkel unsere Genossenschaft als „Immobilienunternehmen“. Formal mag das richtig sein, es spiegelt jedoch auch ein Grundverständnis wieder, das er stets nach außen vertrat: Wir konkurrieren mit dem privaten Immobilienmarkt und diese harten Bandagen sind auch an die JBG anzulegen. Stetiges Wachstum und prestigeträchtige Neubauten zählten – wie in der Branche üblich – zu seinen zentralen Glaubenssätzen.
Dabei ist die Crux dieser Argumentation, dass in Jena bekanntermaßen eine enorme Nachfrage nach Wohnraum besteht und es Herrn Völkel in seiner Amtszeit trotzdem nicht gelungen ist, den aberwitzigen Leerstand von zehn Prozent zu senken. Nach den Regeln des freien Marktes, auf den sich Herr Völkel gern beruft, wäre die Genossenschaft wohl schon gegen den Baum gefahren, denn dieser Leerstand erzeugt massive Mietausfälle.
An einer Stelle legt der Ex-Vorstand richtigerweise den im Genossenschaftsgesetz festgelegten Zweck der Baugenossenschaft dar, nämlich eine „gute, sichere und soziale Wohnungsversorgung“. Allerdings relativiert er diesen wichtigen Aspekt sofort wieder und nennt das Wort „sozial“ ein „Wieselwort“. Ein „Wieselwort“ verweist auf die angebliche Inhaltsleere eines Begriffs – „sozial“ heiße laut Herrn Völkel also Alles und Nichts zugleich. Dem muss entschieden widersprochen werden. Die soziale Wohnungsversorgung gehört seit Jahren zu den zentralen Debatten in der Bundesrepublik. Expert*innen sind sich einig, dass eine soziale Verträglichkeit der Mieten und ein Schutz vor profitorientierten Vermieter*innen eine weiterführende Spaltung der Gesellschaft verhindern helfen kann.
„Sozial“ ist in diesem Zusammenhang ein ziemlich konkreter Begriff. Er bedeutet, dass sich jede*r seine Miete leisten können muss und man die Entwicklung unserer Städte nicht dem freien Markt überlassen darf. Ein sensibles Vorgehen sichert den sozialen Frieden. Auf die Baugenossenschaft übertragen sollte „sozial“ heißen, dass vor der Erhöhung der Nutzungsentgelte („Mieterhöhung“) vonseiten des Vorstands Alternativen geprüft und die Mitglieder ausführlich informiert und angehört werden sollten. Das ist in der Vergangenheit nicht ausreichend geschehen. Auf der Mitgliederversammlung 2019 wurde ein Antrag zur Aussetzung von Mieterhöhungen trotz formaler Richtigkeit einfach ignoriert. Wir hoffen nun auf ein angemessenes Vorgehen des neuen Vorstands Mario Münsterberg.
In dem Abschiedsbrief greift Karsten Völkel seine Kritiker*innen an und beschwert sich über die hohe Steuerlast in Deutschland. Wie ist das zu bewerten?
Alexander Lorenz: Wem es nach all den eher genossenschaftsfernen Gedankengängen von Karsten Völkel und dem mit äußerst fragwürdigen Theorien gespickten Vorwort zum Geschäftsbericht 2018 noch nicht reicht, für den hält er noch eine Kritik am „unersättlich gierigen Steuerstaat“ bereit. In seinem typischen Schwarz-Weiß-Denken spricht er von „Humus-Mehrern“ (die „Fleißigen“) und „Humus-Zehrern“ (die „Faulen“). Wobei die Humus-Zehrer natürlich gemäß des völkelschen Denkens „sozialistisch“ sein müssen – es muss eben dramatisch klingen.
Als „Sozialisten“ bezeichnet er dabei sowohl Nazis als auch Kommunisten sowie die Mitglieder der JBG, die seinem Kurs nicht blind folgen wollten. Wer Nationalsozialismus und DDR gleichsetzt sowie alle anderen Meinungen als „sozialistisch“ brandmarkt, der hat nur eins im Sinn: Die Diskreditierung seiner selbstgewählten „Gegner*innen“. Es sind dann keine Mitglieder mit berechtigten Anliegen, sondern „Sozialisten“. Man kann davon ausgehen, dass Herrn Völkel klar ist, dass dieser Begriff bei vielen Leser*innen Unbehagen oder gar Angst auslösen dürfte und er ihn deshalb verwendet.
Danach vergleicht Karsten Völkel ganz nebenbei die Spitzensteuersätze von 1897 und 2020 – damals vier, heute 42 Prozent. Dazwischen liegen 123 Jahre! Damals gab es weder Automobile noch das Frauenwahlrecht, dafür jede Menge Dampfmaschinen und minimale Rechte für die nicht-besitzende Klasse, also Arbeiter- und Tagelöhner*innen. Die Schulpflicht dürfte wenige Jahre betragen haben, die medizinische Versorgung der Bevölkerung unterirdisch gewesen sein. Der Kaiser herrschte selbstzufrieden über „sein Volk“ und führte es letztendlich in den Ersten Weltkrieg.
Herr Völkel, der seine kaufmännische Weltgewandtheit nicht vergisst stets zu betonen, empfiehlt seinen Leser*innen, diese sollten „vom Staat [ihr] Geld zurück“ fordern, um nicht von diesem „ausgebeutet“ zu werden. Man glaubt es nicht, dass ausgerechnet ein im Vergleich zu vielen der JBG-Mitglieder gut entlohnter Vorstand so denkt. Herr Völkel, der kostenfrei in die Schule und an die Berufsakademie Leipzig gegangen sein sowie alle Privilegien eines in Deutschland geborenen Mannes genossen haben dürfte, seine Kinder an eine staatliche Schule schickt, die gesamte gesellschaftliche Infrastruktur sowie Sportanlagen und Kultureinrichtungen kostenlos benutzt und auch sonst alle sozialen und demokratischen Vorteile dieses Landes ausschöpft, erzählt hier seinem „Mietvieh“ (Branchenjargon), wie schlecht das System ist, das ihn selbst in seine berufliche Position gespült hat.
Wir bedanken uns für Ihre Einschätzung und wünschen Ihnen weiterhin viel Erfolgt bei der Arbeit im Aufsichtsrat!
Alexander Lorenz und Sebastian Bandelin erreichen Sie unter zukunft_wohnen@web.de. In Kürze betreuen sie auch regelmäßig montags und mittwochs unser Beratungstelefon für Bewohner*innen der Jenaer Baugenossenschaft unter 03641 – 55 94 624. Nähere Infos dazu finden Sie in einem gesonderten Artikel auf unserem Blog.